Die wichtigste Aussage vorab: Der weltweite Trend zu Tierarztketten wird sich auch in Deutschland nicht aufhalten lassen („Money talks“). Gesetze oder Standesregeln können ihn höchstens verzögern. Er ist getrieben von Kundenwünschen und finanziellen Zwängen. Die EU-Gesetzgebung der freien Marktwirtschaft fördert ihn. Dennoch werden auch klassische Tierarztpraxen weiter bestehen. Vorträge und Diskussion beantworteten die wichtigsten Fragen zum Thema Praxisketten:
In Deutschland sind das derzeit vor allem zwei schwedische Klinik-Ketten: AniCura mit etwa 100 Standorten und Evidensia mit bislang rund 160 Praxen & Kliniken (in SK, D, NL, A, CH). Bis Mai werde AniCura 14 deutsche Standorte haben, Tendenz weiter steigend, berichtete Dr. Arnd Stelljes – der seine Tierklinik am Bökelberg an die Kette verkauft hat. Evidensia hat aktuell vier Standorte und will bis Jahresende auf 20 Kliniken wachsen. Hinter den Schweden – die beide erst vor wenigen Jahren durch den Zusammenschluss von Tierkliniken entstanden sind – stehen inzwischen millionenschwere Investmentfonds: Nordic Capital und Fidelio Capital (AniCura) sowie EQT (Evidensia). Auch die Rhön-Kliniken- AG, aus der Humanmedizin kommend, will, so ist zu hören, eine Tierklinikkette aufbauen.
Es sollen schnell Tierklinik-Verbünde entstehen, in denen sich dann Synergien heben lassen – etwa durch gemeinsames Management, Marketing, Verwaltung, Fortbildung, Personal- und Experten-Sharing oder standardisierte Abläufe. Wichtig sind auch bessere Einkaufskonditionen (Verbrauchsmaterial und Technik) durch einen (perspektivisch) europaweiten Einkauf.
Mittel- bis langfristig planen die Finanzinvestoren dann den gewinnbringenden „Exit“ durch einen Börsengang oder den Weiterverkauf: So gibt es in Australien und den USA börsennotierte Tierarztketten. Die größte US-Klinikkette Benfield (900 Standorte) gehört beispielsweise zu 100 Prozent dem Lebensmittelkonzern und Futtermittelhersteller Mars (Pedigree, Whiskas, Frolic, etc.). Wohin die Entwicklung gehen kann, zeigen die Marktanteilszahlen (Praxen) der Ketten in den USA (40%), England (50%) oder Skandinavien (52%). Der Anteil am Umsatz ist meist noch höher, da die Ketten profitabler arbeiten beziehungsweise im hochpreisigen Segment aktiv sind.
Unterschieden werden muss zwischen Klinik- und Praxisketten sowie Kleintier-, Gemischt- und Nutztierpraxen: Während Anicura nur Kleintierkliniken betreibt, hat Evidensia in Skandinavien einen 15-Prozent-Pferdeanteil und in Dänemark und Holland auch Kliniken mit Nutztieranteil gekauft. In Deutschland aber investieren die Ketten aktuell nur in Kleintierpraxen/Kliniken ab etwa 1 Mio. Euro Umsatz aufwärts. Sie eröffnen (noch) keine neuen Standorte. Damit ist die große Mehrheit der deutschen Praxisinhaber (noch) nicht unmittelbar betroffen. In den USA, Großbritannien oder Holland gehören aber auch viele mittelgroße Praxen (drei bis sieben Tierärzte) zu Ketten. Viele Standorte sind an Zoo/Heimtier- oder Gartencenter angegliedert. Erste Ansätze dieser Art gibt es auch in Deutschland mit der Praxis-Kette „Smartvet“ (ca. 20 Standorte) oder dem Engagement der Fressnapf-Gruppe (800 Filialen): Sie will zunächst in sechs Märkten in NRW Tierarzt-Partner-Praxen einrichten und dort das Konzept testen. Einem „Roll-out“ in weitere Filialen steht dann wenig im Wege. Diese Strukturen wären in der Fläche eine echte Konkurrenz für klassische Tierarztpraxen.
Der Tierarztmarkt kann sich generell nicht von gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftstrends abkoppeln. So steht einem Wachstum von Drogerie-, Schuh-, Optiker- und Bekleidungsketten, Lebensmittel- oder Bäckereiketten etc. ein Niedergang kleiner Handwerksbetriebe oder „Tante-Emma-Läden“ gegenüber. Dies lässt sich in gewissem Umfang auch auf die Tierarzt-Branche übertragen – mit drei wichtigen Faktoren:
Veränderte Kundenerwartungen:
Bob Carrière, Gründer und CEO der niederländischen „Sterklieniek Dierenartsen“-Gruppe, in der sich Tierärzte mit 78 Standorten zusammengeschlossen haben, und auch der Evidensia-Berater Prof. Raj Bali
verwiesen in ihren Redebeiträgen mehrfach auf die Ansprüche gerade junger kaufkräftiger Generationen. Die erwarteten qualitativ höhere medizinische Standards und Ausstattungen. Sie gingen nicht mehr
nur zum Tierarzt, sondern zum Augen-, Herz- oder Hautspezialisten. So wie sie sich im Internet über Restaurant-Bewertungen informieren, ersetzten Facebook-Bewertungen die klassische
Mund-zu-Mund-Propaganda. Das Persönliche sei nicht mehr so entscheidend. Stattdessen akzeptierten sie „Marken“, die für ein Leistungsversprechen stehen. Dies trifft nicht auf alle Kunden zu, aber
diese Kundengruppen stehen im Fokus der Ketten, denn sie können deren Erwartungspaket besser erfüllen.
Veränderte Mitarbeitererwartungen:
Ein wichtiger Faktor ist die Feminisierung des Tierarztberufes. Frauen stellen europaweit nahe oder über 80 % des Tierarztnachwuchses (Niederlande 92 %). Sie wollen mehrheitlich angestellt arbeiten,
erwarten dabei planbare Arbeitszeiten, Teilzeitangebote und einen angemessenen Verdienst. Karriereinteressen treten gegenüber einer Work-Life-Balance in den Hintergrund. Umgekehrt sinkt die
Bereitschaft als Unternehmer und Praxisinhaber auch finanziell ins Risiko zu gehen und Verantwortung für Mitarbeiter zu übernehmen. Dazu kommt gerade bei Akademikern der Trend zur Urbanisierung. In
Ballungsräumen gibt es ein Überangebot an Tierärzten. Ketten erscheinen ihnen als attraktive Arbeitgeber.
Veränderter Finanzbedarf:
Mit den Ansprüchen der Kunden steigt auch der Finanzbedarf in (Kleintier-) Praxen/ Kliniken. Zum einen die Personalkosten, aber auch die Technikkosten (Ultraschall/ Digitales Röntgen/CT/MRT). Der
Trend zu größeren Einheiten zeigt sich auch in inhabergeführten Praxen und Kliniken. Die Deutsche Tierärztestatistik verzeichnet seit Jahren ein stetiges Wachstum der Gemeinschaftspraxen. Im
Klinikbereich wachsen die Einheiten in Richtung 30 bis 50 und auch deutlich mehr Mitarbeiter. Bei der Nachfolgersuche stellt sich wiederum die Fragen, wer soll und kann diese großen bereits jetzt
bestehenden Praxen/Kliniken kaufen?
Dies war das strittigste Thema der Diskussion: „Money talks“ hat es Torril Moseng, Präsidentin des Norwegischen Tierärzteverbandes (NVA) genannt. Die NVA ist keine Kammer, sondern eher eine Gewerkschaft. Ihre bei Ketten beschäftigten Mitglieder haben etwa von eingeschränkter Medikamentenauswahl, hohem ökonomischen Druck, wenig oder begrenzter Zeit für die Patienten sowie eingeschränkter Entscheidungsfreiheit berichtet.
„Es wird Vorgaben für MRT oder CT-Einsätze geben, das wird laufen müssen.“ Die Renditeerwartungen und entsprechende Vorgaben der Investoren waren das größte Problem, das Fragesteller aus dem
Auditorium immer wieder ansprachen. Verändert sich die Tierarztrolle von der Berufung zum fremdgesteuerten Job?
Dem entgegneten die Kettenvertreter: „Der Tierarzt ändert sich nicht, wenn er vom Klinikinhaber zum tierärztlichen Geschäftsführer wird.“ Er bleibe Chef und Gallionsfigur. Die Verträge seien so gestaltet, dass der Investor sich in die tiermedizinische Arbeit nicht einmische. „Regionalität und Individualität bleiben bestehen. AniCura etwa schreibe keine Preise vor, die wir zu nehmen haben, es gibt keine Prämien für OP-Zahlen und keine Sollvorgaben“, betonte Arnd Stelljes. Behandlungsrichtlinien oder Prozesse, wie ein Durchfallpatient abzuarbeiten sei, gebe es umgekehrt auch heute schon in Kliniken. Dumpingpreise wiederum sind von den Klinikketten nicht zu erwarten, da sie sich als hochwertige Tiermedizinanbieter positionieren. Dennoch überwog im Auditorium die Skepsis: Erwartet wird eine gewisse Angleichung der Standards – nicht immer zum Wohl der Patienten. Carsten Grußendorf – der, ebenfalls von den Ketten angesprochen, sein Tiergesundheitszentrum Grußendorf nicht verkauft hat – betonte: „Tierärzte verkaufen keine Burger – wir verkaufen uns.“ Diese Eigenständigkeit sei ihm auch als Unternehmer wichtig.
Mit den geburtenstarken Jahrgängen der 60er steuern viele Praxisinhaber auf die Rente zu. Am anderen Ende wächst eine zu 85 Prozent weibliche Tierarztgeneration nach mit dem primären Berufsziel, angestellt zu arbeiten. Nachfolgesuche ist ein Problem, das langfristig (10 Jahre Vorlauf) angegangen werden muss. Mit den Klinikketten sind Käufer am Markt, die sich schnell Marktanteile sichern wollen und daher (zurzeit) gute Preise zahlen. Das gilt allerdings zunächst nur für größere Einheiten. Und sie ändern bereits etwas ihre Strategie, wollen, dass die Altinhaber nicht nur mindestens drei bis fünf Jahre, sondern länger (bis 10 Jahre) als Geschäftsführer die Praxen/Kliniken führen.
Angestellte wiederum – das zumindest sagen Daten aus Norwegen – fühlen sich in größeren Unternehmen sicherer, erwarten von den Ketten eine bessere Bezahlung und geregeltere sowie familienfreundlichere Arbeitszeiten als in kleinen Praxen. Auch „Karrierepläne“ als Angestellter lassen sich in Ketten besser verwirklichen. Sie werben mit (internationalen) In-House Aus- und Fortbildungen, mit Spezialisierungen, Jobrotationen, Fachtierarzt- und Diplomate-Qualifikationen. Standorte „teilen“ sich tageweise Spezialisten (Kardiologen, Neurologen etc.). Das „Mitarbeitersharing“ sei freiwillig, es gebe keine Zwangsversetzungen. Know-How-Austausch mit anderen Standorten ist aber Pflicht. Die Ketten wiederum erwarten, aus ihrem gut ausgebildeten Oberarzt-Pool mittelfristig kompetente tierärztliche Geschäftsführer rekrutieren zu können.
Umgekehrt wurde aus Norwegen aber auch von einem großen Gehaltsgefälle zwischen „Basistierärzten“ und Spezialisten berichtet. Für Deutschland haben die Ketten angekündigt, „marktübliche“ Gehälter zu zahlen. Das lässt für junge Tierärzte zunächst keine großen Gehaltssprünge erwarten. Der Möglichkeit, innerhalb einer Kette an verschiedenen Standorten arbeiten zu können, steht auch ein Risiko gegenüber: Wenn wenige Ketten große Teile des (Klinik)-Marktes beherrschen, kann es schwierig werden, in Ballungszentren einen neuen Arbeitgeber zu finden, sollte man es sich mit einer Kette „verscherzen“.
Nein. Die Marktanteile der Ketten in „reifen“ Märkten wie den USA oder England liegen bei rund 50 Prozent. Deutschland fehlt außerdem ein für Tierarztketten wichtiger Faktor: Eine hohe Abdeckung mit Tierkrankenversicherungen, die es z. B. sowohl in den Niederlanden als auch Skandinavien gibt. Ob sich hier also ähnliche Marktstrukturen bilden ist noch völlig offen.
bpt-Präsident Siegfried Moder fasste es in Bielefeld prägnant zusammen: „Investoren wollen Profit machen. Wenn sie entsprechendes Potential im deutschen Tierarztmarkt sehen, sollten die Tierärzte diese Chancen auch selbst erkennen – und für sich nutzen.“ Zentral werde eine bessere betriebswirtschaftliche Qualifikation sein, für die der Grundstock schon im Studium gelegt werden müsse. Inhaber bestehender Praxen müssten sich qualifizieren – zum Beispiel über Praxismanagementkurse oder die betriebswirtschaftliche Beratung, die der bpt anbietet. Praxisinhaber müssten sich als Unternehmer professionalisieren.
„Muss man sich unbedingt in die Hand internationaler Investoren begeben oder lassen sich nicht auch andere Wege finden, große (Praxis)Einheiten zu finanzieren und dennoch als Tierärzteschaft die Kontrolle zu behalten?“ Die Frage wurde mehrfach gestellt. Zusammenschlüsse von Tierärzten zu Einkaufsgemeinschaften oder Praxisverbünden sind eine Möglichkeit. Auch für lokale Geldgeber könnten Tierarztpraxen eine interessante Investitionsmöglichkeit sein. Aber auch an die tierärztlichen Versorgungswerke ist zu denken, die jährlich mehrere Millionen Euro in entsprechende Anlagen investieren. Warum nicht künftig auch in Tierarztzusammenschlüsse? In Skandinavien oder den Niederlanden gibt es solche inhabergeführten Tierarztgruppen zum Teil bereits sehr lange. Allerdings sind gerade sie für die Ketten besonders interessant, da sich mit einem Schlag sofort größere Marktanteile zukaufen lassen. „VetFamily“ ist ein solcher Zusammenschluss von rund 80 unabhängigen Praxen und Kliniken in Dänemark und Schweden. Doch auch der gehört inzwischen zur AniCura-Gruppe – wenn auch als weiter eigenständige Einheit, in der die Investoren nicht die Entscheider sind. Evidensia hat gerade in den Niederlanden die 1988 gegründete und aus fünfzehn Praxen bestehende „DierenzorgGroep“ gekauft. Auch Bob Carrières „Sterenkliniek dierenartsen“ – ein tierarztgeführter Zusammenschluss von 78 Praxen und einem Umsatz von 53 Mio. Euro - wird von Investoren umworben. Kleinere Ansätze sind in der Schweiz der „Vet- Trust“ oder in Österreich die tierarztgeführte Franchise-Kette „TierPlus“. In Deutschland gibt es außer Smartvet keine nennenswerten Ketten, aber einige größere Praxen/Kliniken mit mehreren Niederlassungen.
Ob Tierarztketten nun „Segen oder Fluch“ sind, lässt sich derzeit schlicht noch nicht beantworten. Sie bieten Chancen für bestimmte Tierarztgruppen – sowohl bei Inhabern als auch Angestellten, aber auch Risiken. Ob es zu tiefgreifenden Marktveränderungen kommt und wenn ja zu welchen, ist in dieser frühen Phase noch völlig offen. Bob Carrières Empfehlung für Praktiker ist deshalb niederländisch pragmatisch: „Plane langfristig Dein eigenes für Dich persönlich passendes Geschäftsmodell als Tierarztunternehmer inklusive Exit-Strategie. Lass Dich nicht davon überraschen, wenn morgen gegenüber eine Kettenpraxis aufmacht“ – und: „Wenn Du sie nicht schlagen kannst, tritt ihnen bei.“
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